Genossenschaftswesen
Grundgedanken
Die Genossenschaft ist eine Gesellschaft, die sich an Grundwerten wie Selbsthilfe, Eigenverantwortung, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Solidarität orientiert. Im Zentrum der wirtschaftlichen Tätigkeit steht nicht die Maximierung des Profits, sondern die Person. Alle Mitglieder sind gleichgestellt und nehmen aktiv an allen Entscheidungsprozessen des Unternehmens teil. Gegenüber dem freien Markt bieten Genossenschaften ihren Mitgliedern vorteilhaftere Bedingungen bei Gütern, Dienstleistungen und Arbeitsmöglichkeiten. Außerdem wird angesammeltes Kapital im Unterschied zu anderen Gesellschaftsformen hauptsächlich in das Unternehmen reinvestiert. Die Genossenschaft ist nicht teilbar, die Mitglieder sind ihre Verwalter und das erstellte Vermögen wird den neuen Generationen der Mitglieder anvertraut. Zudem ist die Genossenschaft eng mit der lokalen Realität, in der sie arbeitet, verbunden und stärkt auf diese Weise die lokale Wirtschaft.
Geschichte
Die ersten Genossenschaften in Europa wurden Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet, um menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen für Fabriksarbeiter einzufordern. 1844 gründeten Textilarbeiter im englischen Rochdale die erste eigenständige Genossenschaft; in Deutschland errichteten Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delizsch Kreditgenossenschaften. Zur selben Zeit entstand das Genossenschaftswesen auch in Italien und Österreich.
In Italien wuchs das Genossenschaftswesen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stark an. 1910 gab es 7.400 Genossenschaften mit über einer Million Mitglieder. Obwohl das faschistische Regime das Wachstum des Genossenschaftswesen stark einbremste, trugen Genossenschaften in der Nachkriegszeit maßwirkend zur Modernisierung Italiens bei. Seit den 1970ern ist die Anzahl der Genossenschaften mit einer Rate von ca. 40% pro Jahrzehnt stark angestiegen. Heute tragen Genossenschaften ca. 8% zum Bruttoinlandsprodukt bei. Etwa die Hälfte aller italienischen Genossenschaften ist im Süden Italiens tätig. Die meisten Genossenschaften arbeiten im Bau- und Transportsektor, im Bereich der wirtschaftlichen Dienstleistungen sowie im sozio-sanitären Bereich. Seit 1991 werden auch Sozialgenossenschaften, die den Interessen der Allgemeinheit dienen müssen, rechtlich anerkannt. Zwei Organisationen vereinigen die italienischen Genossenschaften: die Lega Nazionale delle Cooperative e Mutue, sowie die Confederazione Cooperative Italiane.
In Österreich wurde die erste Genossenschaft 1851 als „Aushilfskassenvereins in Klagenfurt" gegründet. Zwischen 1890 und 1914 fand eine Verzehnfachung der Genossenschaften statt, die die Anzahl auf rund 19.000 Genossenschaften steigen ließ (etwa 3.000 auf dem Gebiet des heutigen Österreich). Heute gehört der Großteil der österreichischen Genossenschaften (etwa 1600 von 2000) zur Raiffeisen-Gruppe. Andere wichtige Genossenschaftsverbände sind der Österreichischer Genossenschaftsverband (Schulze-Delitzsch), der Konsumverband, der Revisionsverband der Österreichischen Konsumgenossenschaften und der Österreichische Verband gemeinnütziger Bauvereinigungen-Revisionsverband. Die Genossenschaften sind also vor allem in den Bereichen Landwirtschaft, Banken, Wohnen und Einkauf/Konsum tätig, aber es entstehen auch neue Genossenschaften wie z.B. im Bereich der erneuerbare Energien oder als genossenschaftliche Nahversorger.
In den letzten Jahren ist das Interesse an Genossenschaften weltweit gestiegen. So wurde 2012 von den Vereinten Nationen als das Internationale Jahr der Genossenschaften erklärt. Dieses Interesse steht wohl im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise, die alternative Wirtschaftsformen attraktiv macht. Laut dem Wirtschaftsexperten Dietmar Rößl sind Genossenschaften oft krisen- und insolvenzfester als andere Gesellschaften.
Die Europäische Genossenschaft
2003 wurde das Statut der Europäischen Genossenschaft durch die Verordnung 2157/2001 eingeführt, mit dem Ziel, grenzüberschreitende und länderübergreifende Tätigkeiten von Genossenschaften zu erleichtern und rechtliche Gründungshindernisse zu beseitigen. Dadurch sollte eine Wettbewerbsgleichheit zu den Kapitalgesellschaften geschaffen werden. Die Mitgliedstaaten mussten ihre nationalen Rechtsvorschriften bis Mitte August 2006 an die Bestimmungen der Verordnung anpassen. Heute (2013) gibt es insgesamt 23 registrierte Europäische Genossenschaften, vier davon in Italien (Fondo Salute SCE, Cooperazione Euromediterranea SCE, Nova SCE, and AgriSocialCoop SCE). Derzeit gibt es noch keine österreichischen Europäischen Genossenschaften.
Quellen
Blisse, Holger und Brazda, Johann. Internationales Jahr der Genossenschaften. Raiffeisenblatt. http://www.raiffeisenblatt.at/eBusiness/01_template1/121810312645017022-121809748930559302_126154437634825905-802010159370272855-NA-30-NA.html
Borzaga, Carlo, Sara Depedri and Riccardo Bodini. Cooperatives: The Italian Experience. EURICSE.
International Cooperative Alliance. http://ica.coop/en/what-co-op/co-operative-identity-values-principles.
Leitner, Thomas. 2012. Über das Genossenschaftswesen in Österreich.
Libertas Institut. www.libertas-institut.com/de/EWIV/List_SCE.pdf
ORF. Mit Genossenschaften durch die Krise. http://news.orf.at/stories/2100253/2100254/.
Stenico, Alberto. 2012. Das Genossenschaftswesen in Italien und Südtirol/Alto Adige.